Was bedeutet Zeitenwende? Für eine wertegeleitete UND realitätsbezogene sozialdemokratische Außen- und Sicherheitspolitik

Debattenbeitrag der Bundestagsabgeordneten Sanae Abdi, Fabian Funke und Ralf Stegner für den Auftakt des Ideenforum Außenpolitik der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion

Zeitenwende – des Kanzlers eindrückliche Beschreibung der Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine bringt eine allgemeine Stimmungslage in weiten Teilen der europäischen Bevölkerungen nach dem 24. Februar 2022 auf den Punkt. Tatsächlich geht es um nichts weniger als die Frage, ob wir in einer Welt des Rechts des Stärkeren oder einer regelbasierten internationalen Ordnung leben wollen. Und um die Frage, wie wir die Errungenschaften der sozialen Demokratie in der Zeitenwende verteidigen und modernisieren können.

Die Zeitenwende ist umfassend: Druck auf Lieferketten und „Just in time“-Produktionsmodelle, Verschiebungen in der internationalen Arbeitsteilung, eine Schwächung Internationaler Organisationen, die Auswirkungen auf die Bekämpfung von Armut und Klimawandel nicht nur im Globalen Süden – all diese Entwicklungen sind aufeinander bezogen.

Zeitenwende bedeutet auch, dass wir unseren Sicherheitsbegriff breiter fassen müssen: Er nimmt menschliche Sicherheit in den Fokus. Er erkennt unter­schiedliche Sicherheits­bedürfnisse an und berücksichtigt außen-, entwicklungs- und verteidigungspolitische Perspektiven. Er ist verankert in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit als Menschenrecht eines und einer jeden weltweit. Eine Zeiten­wende in der Außen- und Sicherheitspolitik kann nur mit einer feministischen Ausrichtung ge­lingen. Für uns ist von zentraler Bedeutung, dass Frauen und an­dere vulnerable Gruppen in Entscheidungsprozesse als tragende Akteur:innen auf allen Ebenen eingebunden werden, denn zahlreiche Studien zeigen, dass es weniger Hunger, weniger Armut und mehr Stabilität gibt, wenn Frauen gleichbe­rechtigt Verantwortung innehaben.

Ein neues Spannungsfeld

All dies erfordert Neubestimmungen in der Außen-, Sicherheits- und Friedens­politik. Wir müssen die neuen Realitäten ernst nehmen, ohne dabei eine Militarisierung des politischen Denkens und Handelns zuzulassen. Die Einhaltung der Internationalen Menschenrechtscharta, der UN-Nachhaltigkeitsziele, der Umsetzung der Pariser Klimaziele, und der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) setzt friedliche Kooperation voraus.

Als linke Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten setzen wir uns für eine sol­che wertegeleitete und realitätsbezogene Neubestimmung ein. Deswegen skizzieren wir an dieser Stelle einige Ideen, wie sozialdemokratische Antworten auf die Zeitenwende aussehen können.

Die Interessen Deutschlands

Die Interessen Deutschlands können in drei Kategorien eingeteilt werden. Erstens: wertegeleitete Interessen entlang der Grundwerte Demokratie, Recht­staatlichkeit und Menschenrechte. Sie formen die Basis unseres Handelns und ge­ben unsere Vision der internationalen Staatengemeinschaft vor. Für diese Werte engagiert sich Deutschland in Europa und in der Welt. Deutschland steht in der Pflicht, Staaten und Akteure, die für diese Werte und diese Vision der Welt eintreten, aktiv zu unterstützen.

Zweitens: Deutschland hat geostrategische und unmittelbare, materielle Sicher­heitsinteressen: Frieden und Stabilität in Europa und der europäischen Nachbar­schaft, die Deckung von Bedarfen an Energie, Rohstoffen und Handelsgütern, der Schutz kritischer Infrastruktur. Es ist im langfristigen strategischen Interesse Deutschlands diese Interessen strukturell unabhängig vom Handeln nicht-demo­kratischer Staaten und Akteure zu machen. Das heißt im Umkehrschluss je­doch nicht, dass jegliche Zusammenarbeit mit diesen Staaten und Akteuren gestoppt werden soll. Politische, zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Beziehungen sollen im notwendigen Maße aufrechterhalten werden, um so im Ringen um Mehrheiten im Sinne unserer Werte und Interessen im globalen Konzert der Staaten weiter über Kanäle zu ver­fügen.

Diese Beziehungen dürfen aber niemals wieder in einem Glauben des Wandels durch Handel münden und dadurch Abhängigkeiten schaffen, die unsere Werte und Interessen erpress­bar machen. Stattdessen müssen diese politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit Regeln untermauert werden, die Mindest-standards entlang unserer Wertevorstellungen absichern – beispielsweise durch Lieferketten­gesetze.

Drittens: Deutschland hat ein Interesse an der Bewältigung der übergeordneten Menschheitsthemen. Klimawandel, Frieden, Abrüstung, nicht-Verbreitung nuklearer Waffen, globale Ernährungssicherheit, globale Gesundheit, globale Entwicklungs­perspektiven und globale Verteilungsgerechtigkeit. Wir wollen diese Probleme lösen, sie sind von existenzieller Bedeutung für die Menschheit – und somit zwangsweise auch für Deutschland und Europa. Zusammenarbeit mit Akteuren und Staaten, die die eigenen Werte und Interessen nicht teilen, ist hier moralisch und pragmatisch notwendig, um ausreichend Fortschritt zu erzielen.

Die wirtschaftliche Dimension der Zeitenwende

Nicht erst die gestiegenen Energiepreise und Produktionsausfälle im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine haben uns schmerzhaft vor Augen geführt, dass das in Globalisierung entstandene deutsche Produktionsmodell auf Basis preiswerter Rohstoffe und effizienter Lieferketten an Grenzen stößt. Ziel sozial­demokratischer Politik bleibt der Schutz von Arbeitsplätzen und die Sicherung und Modernisierung deutscher und europäischer Produktionskapazitäten. Dies erfordert u.a. resilientere Lieferketten, wo notwendig mehr eigene Produktions­kapazitäten (z.B. Medikamentenversorgung) den massiven Ausbau Erneuerbarer Energien für mehr Energiesouveränität und eine Diversifizierung unserer globalen Handelspartnerschaften, um gefährlichen Abhängigkeiten vorzubeugen. Ein um­fassenderes Verständnis welche Bestandteile eine krisenresiliente Daseinsvor­sorge umfasst, die dann nicht mehr von internationalen Marktmechanismen ab­hängig sein darf. Deutsche Sicherheitsinteressen können nur dann erfolgreich vertreten werden, wenn sie auch die Sicherheitsbedürfnisse und Perspektiven unserer europäischen und internationalen Partner:innen berücksichtigen. Dafür wird es notwendig sein, Deutschlands eigene wirtschaftliche Interessen in Ein­klang mit den Sicherheitsinteressen der Staatengemeinschaft zu bringen, bisweilen die wirtschaftlichen Interessen denen der Sicherheit unter zu ordnen.

Internationale Organisationen und strategische Partnerschaften

Unsere europäischen und internationalen Partner:innen haben hohe Erwartungen an Deutschland, seiner Verantwortung auch über die eigenen nationalen Interessen hinaus gerecht zu werden. Dabei gelten für uns folgende Grundsätze: Entscheidungen werden immer im Konzert der globalen Demokratien – der EU, NATO und G7 – getroffen, nie allein. Unsere Rolle in der Welt muss es sein, als friedschaffender und auf Diplomatie ausgerichteter Partner der Staatengemein­schaft in Sachen humanitärer und wirtschaftlicher Hilfe mit gutem Beispiel voran­zugehen. Die Zeitenwende verlangt auch, dass wir unsere militärische Mit­verant­wortung wahrnehmen.

Die Europäische Union ist der zentrale Anker unseres internationalen Handelns. Wir wollen die Integration der Europäischen Union vertiefen – wirtschaftlich, sicherheitspolitisch und sozial. Nur so stärken wir unsere Resilienz – immer eng abgestimmt mit unseren Europäischen Partner:innen, gerade auch mit Blick auf unsere mittel- und osteuropäischen Nachbarn.

Die Vereinten Nationen (UN) und ihre internationalen Institutionen sind weiterhin einzigartige und essenzielle Foren des internationalen Austauschs. Die Lösung der existenziellen Menschheitsthemen bedarf einer handlungsfähigen globalen Platt­form. Die weitere Stärkung der globalen Internationalen Organisationen ist deshalb unser klares Ziel. Wenn autokratische Staaten ihre Arbeitsfähigkeit blockieren, müssen alternative multilaterale Formate gefunden werden, um hand­lungsfähig zu bleiben. Deutschland und die globalen Demokratien müssen hier mit Initiative vorangehen.

Für eine nachhaltige und friedensbildende Entwicklungspolitik

In dem Wissen darüber, dass unsere Gesellschaft nur so stabil sein kann, wie die uns umgebende Welt stabil ist, verstehen wir Entwicklungspolitik als  Sicherheits­politik. Wir sind erst sicher, wenn alle sicher sind! Durch sie wird die Verknüpfung von Innen- und Außenpolitik noch deutlicher. Nachhaltige wirtschaftliche Zusammen­arbeit ist entscheidend für die Prävention von Krisen und die Sicherung von Frieden. Unsere Entwicklungspolitik spielt eine entscheidende Rolle dabei, Differenzen aufzubrechen, Vertrauen zu unseren Partnerländern zu stärken und gemeinsame globale Lösungswege zu finden.

Unveränderliche Ziele sozialdemokratischer Entwicklungspolitik bleiben Hunger- und Armutsbekämpfung, weltweiter Zugang zur Gesundheitsversorgung, Bildung und die Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen. Darin leitet uns die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Die Verpflichtung zu den Sustainable Development Goals ist eine der wichtigsten internationalen Errungenschaften und muss noch stärker in den Fokus unseres politischen Handels rücken. Globalen Herausforderungen müssen wir strukturell begegnen. Das geht nicht ohne eine nachhaltige, finanzielle Absicherung entwicklungspolitischer Vorhaben, denn Führung bedeutet auch finanzielle Verantwortung. Wir müssen den Auf- und Ausbau sozialer Sicherungs­systeme vorantreiben, uns für die Entschuldung von Ländern des globalen Südens einsetzen und unsere Partnerländer bei der Transformation hin zu einer nachhaltigen, widerstandsfähigen Wirtschaft unterstützen.

Klimawandel bedroht weltweit menschliche Sicherheit und internationale Stabilität. Bewaffnete Konflikte und erzwungene Fluchtbewegungen werden schon heute durch Klimaveränderungen ausgelöst und verstärkt. Sicherheits­politik kann daher nicht mehr losgelöst von einer Politik gedacht werden, die Klima­schutz auch in den Fokus nimmt.

All dies kann nur gelingen, wenn wir endlich die Perspektiven unserer Partner­länder im Globalen Süden einbeziehen. Die entscheidende Ressource moderner Führung wird auch in Zukunft in der Fähigkeit bestehen, Netzwerke aufzubauen, Allianzen zu schmieden und zu kooperieren.

Wandel durch Annäherung

Das Prinzip Wandel durch Annäherung hat zu einem friedlicheren Europa geführt. Die Idee des „Wandels durch Handel“ ist jedoch gescheitert. Wirtschaftliche Verflechtungen können die Kosten von Kriegen erhöhen, sie aber nicht verhindern. Vielmehr bleibt einer der wichtigsten friedenspolitischen Bau­steine der „Wandel durch Annäherung“. Der Gedanke, Verständnis für gegenseitige Perspektiven zu entwickeln und Spannungen abzubauen, hat seinen Wert nicht verloren. In unserer globalisierten Welt geht es jedoch nicht mehr um den Blick hinter eiserne Vorhänge, sondern um die Beständigkeit unserer Grundwerte im globalen Daueraustausch. Darauf Antworten zu finden, ist unsere historische Heraus­forderung.

Aber frei nach Willy Brandt werden wir uns darauf besinnen, „dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll“ und müssen darum jetzt konkret ausgestalten, wie das im Heute, im Jahr 2022, aussehen kann. Eines muss dabei klar sein, Wandel geschieht nur auf Augenhöhe.

Darum werden wir Fragen wie ‚Wie sieht moderne Völkerverständigung aus?‘ ‚Wie gestalten wir länderübergreifenden Jugendaus­tausch?‘ ‚Wie organisieren wir Teilhabe international in einer digitalisierten Welt?‘ und weitere jetzt diskutieren.