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Das allgemeine und gleiche Wahlrecht ist die tragende Säule unserer Demokratie. Trotzdem dürfen es nicht alle volljährigen deutschen Staatsbürger ausüben. Paragraf 13 des Bundeswahlgesetzes legt fest, welche Personengruppen nicht an der Wahl zum Deutschen Bundestag teilnehmen dürfen. Demnach sind vor allem diejenigen vom Wahlrecht ausgeschlossen, für die ein gesetzlicher Betreuer zur Regelung all ihrer Angelegenheiten bestellt ist – die sogenannten „dauerhaft Vollbetreuten“.

Für die Betroffenen ist das oft schwer erträglich. „Es ist bedrückend, nicht wählen zu dürfen. Alle dürfen das, auch die anderen Menschen mit Behinderung aus meiner Wohngemeinschaft“, sagte zum Beispiel Klaus Winkel gegenüber dem Spiegel. Winkel ist geistig behindert, aber durchaus in der Lage, seine Interessen deutlich zu machen. Er klagt derzeit gemeinsam mit anderen Betroffenen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Wahlrechtsentzug.

Betreuungen werden vom Betreuungsgericht immer dann angeordnet, wenn Betroffene aufgrund von psychischen Krankheiten oder Behinderungen ihre rechtlichen Angelegenheiten nicht mehr selbst regeln können. Die Betreuung darf sich dabei jedoch nur auf solche Aufgabenbereiche beziehen, die die Betroffenen nicht eigenständig erledigen können. Ist das Betreuungsgericht der Auffassung, dass der Betroffene keinerlei rechtliche Angelegenheiten mehr selbstständig regeln kann, so ordnet es eine dauerhafte Vollbetreuung an. Damit wird den Betroffenen gleichzeitig und automatisch auch das Wahlrecht entzogen.

Unvereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention

Dieser automatische Entzug des Wahlrechts wird zu Recht kritisiert. Der UN-Ausschuss zum Schutz der Menschen mit Behinderungen hat den deutschen Gesetzgeber aufgefordert, ihn aufzuheben, da er gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstoße. Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben reagiert und im vergangenen Jahr entsprechende Wahlrechtsausschlüsse aus ihren Landeswahlgesetzen gestrichen.

So wird festgestellt, dass Vollbetreute nicht unbedingt schwer beeinträchtigt sind. Viele Personen mit schwersten geistigen Behinderungen sind überhaupt nicht voll betreut, weil dies aufgrund ihrer Dauerhospitalisierung nicht erforderlich ist, sprich: Sie nehmen am öffentlichen Leben nicht mehr teil. Gleichwohl sind sie wahlberechtigt. Viele leichtgradig beeinträchtigte Personen hingegen sind auf eigenen Wunsch hin aus Selbstschutz vor Risiken voll betreut. Viele von ihnen allerdings sind politisch informiert und entscheidungsfähig. Sie wollen wählen.

Weiter wird festgestellt, dass 2014 und 2015 in Deutschland 81.220 Vollbetreute vom Wahlrecht ausgeschlossen waren. Dabei gibt es ein starkes regionales Ungleichgewicht. Während in Hamburg und Bremen auf je 100.000 Bürger jeweils weniger als zehn Wahlrechtsentzüge kommen, sind es in Nordrhein-Westfalen 165 und in Bayern sogar 204. In Bayern ist die Wahrscheinlichkeit eines Wahlrechtsausschlusses also um ein Zigfaches höher als in Bremen. Als könne es ernsthaft vom Wohnort abhängen, ob und wann eine Vollbetreuung angeordnet wird.

Dies ist umso bedenklicher, als es sich beim Verlust des Wahlrechts um einen massiven Eingriff in die Rechte der Betroffenen handelt. Die Schwere dieses Eingriffs setzt eigentlich voraus, dass sich die Gründe explizit auf die Fähigkeit des Betroffenen zur Ausübung des Wahlrechts beziehen.

Gleiches wird ungleich behandelt

Schließlich lässt sich durchaus argumentieren, dass jemand, der zwar keine Kaufverträge mehr abschließen darf, trotzdem noch wählen können sollte. Durch die Wahl entsteht ihm kein Vermögensnachteil. Und gerade die Schwächsten einer Gemeinschaft müssen ein Recht haben, auf Veränderungen hinzuwirken, auch und gerade wenn diese nur einen kleinen, eben noch nachvollziehbaren Nahbereich betreffen. Genau das ist aber nach der geltenden Rechtslage nicht der Fall. In die Entscheidungsfindung des Gerichtes zur Geschäftsfähigkeit fließen keinerlei Überlegungen zur Wahlrechtsfähigkeit der Betroffenen ein. Das allgemeine Wahlrecht geht – quasi als Nebenwirkung – automatisch verloren, wenn das Gericht zu der Auffassung gelangt, dass eine Vollbetreuung notwendig ist.

Dass mit dem Verlust der Geschäftsfähigkeit keineswegs zwangsläufig auch das Wahlrecht verloren gehen muss, zeigt der Vergleich mit sogenannten Vorsorgevollmachten. Hat eine später geschäftsunfähig gewordene Person rechtzeitig vorher durch eine Vorsorgevollmacht entschieden, wer ihre Angelegenheiten regeln soll, so kann eine Vollbetreuung gerichtlich nicht angeordnet werden. Ein Wahlrechtsentzug kann damit auch nicht stattfinden. Gleiches wird also ungleich behandelt. Denn diejenigen, die in gleicher Weise beeinträchtigt sind, aber keine Vorsorgevollmacht ausgestellt haben, verlieren ihr Wahlrecht.

Die SPD-Bundestagsfraktion hat deshalb beschlossen, den Wahlrechtsausschluss aus dem Bundeswahlgesetz und dem Europawahlgesetz zu streichen. Dieser Vorstoß scheiterte in diesem Frühjahr an der CDU/CSU-Fraktion. Es steht zu hoffen, dass sich der nächste Bundestag einsichtiger zeigt als der jetzige. Denn es wäre peinlich, wenn wieder einmal das Bundesverfassungsgericht das Parlament korrigieren müsste.

 

Dieser Artikel erschien zuerst am 13.6.2017 auf ZEIT ONLINE.