von Hilde Mattheis und Bärbel Bas
Im Jahr 2017 stehen nicht nur die Wahlen zum 19. Deutschen Bundestag an. Am 31. Mai finden auch zum zwölften Mal Sozialwahlen statt – gemessen an der Zahl der Wahlberechtigten die wichtigste Wahl in Deutschland nach den Bundestags- und Europawahlen. Dennoch geht diese Wahl meist fast unbemerkt vonstatten. In diesem Jahr aber erzeugt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung ein wenig Aufmerksamkeit.
Sozialwahlen bilden ein fundamentales Prinzip unseres Sozialversicherungssystems und unserer demokratischen Gesellschaft ab: Das Prinzip des „Regierens durch Regierte“. Bei den Sozialwahlen werden für Renten-, Unfall-, Pflege- und Krankenversicherung die ehrenamtlichen Vertreterversammlungen bzw. Verwaltungsräte gewählt. Die Sozialversicherung wird also nicht fremdbestimmt, sondern verwaltet sich selbst. Die vermeintlich „trockene“ Selbstverwaltung birgt ein gewaltiges Potential: Die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten finanzieren mit ihren Beiträgen die Solidargemeinschaft und damit die Leistungen für Rentner und Kranke. Deshalb sitzen sie auch am Tisch der Entscheider. Gibt es einen Zusatzbeitrag für die Krankenkasse und wie hoch soll der sein? Werden homöopathische Leistungen oder lieber eine professionelle Zahnreinigung von der Kasse erstattet? Oder gleich beides? Benötigt ein Versicherter in besonderen Fällen eine weitergehende Versorgung oder nicht? Diese Fragen beantworten die Verwaltungsräte der Krankenkasse, die in der Regel zu gleichen Teilen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite – und damit den Versicherten – besetzt sind. Diese gelebte Mitbestimmung der Sozialpartner hat für uns Sozialdemokraten eine sehr hohe Bedeutung und ist für den Erfolg der Sozialversicherung unverzichtbar.
Als SPD haben wir in der Vergangenheit für die Möglichkeit einer Onlinewahl bei den Sozialversicherungswahlen und die Einführung der Frauenquote in den Verwaltungsräten geworben. Strittig bleibt weiterhin das Prinzip der so genannten Friedenswahl. Dieses Prinzip ist Ausdruck funktionsfähiger Interessenvertretung von Versicherten, verhindert aber gleichzeitig Wahlkampf und damit auch öffentliches Interesse. Um die Selbstverwaltung stärker ins Bewusstsein der Versicherten zu bringen, werben wir für mehr Urwahlen bei den Krankenkassen.
Die SPD steht für eine starke Selbstverwaltung. Umso kritischer sehen wir daher einen Gesetzentwurf des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) mit dem wohlklingenden Titel „Selbstverwaltungsstärkungsgesetz“. Die Stärkung der Selbstverwaltung ist immer eine gute Idee. Der erste Entwurf des BMG zum Gesetz hätte aber das genaue Gegenteil erreicht. Nach massiver Intervention der SPD und harscher Kritik aus der gesamten Fachwelt hat das Ministerium seinen ersten Vorschlag entschärft. Das ist gut, kann uns aber noch nicht zufriedenstellen. Unstrittig ist: Auch die Selbstverwaltung muss sich kontinuierlich anpassen. Allerdings dürfen die Strukturprinzipien, das Sachleistungsprinzip und die Solidarität nicht angetastet werden. Es darf zu keiner Beschneidung der Selbstverwaltung kommen. Es hat schließlich für die Menschen keinen Sinn, ein Gremium zu wählen, wenn dieses dann die maßgeblichen Entscheidungen für die Sozialversicherung nicht autonom treffen kann.
Das BMG hat mit seinem Gesetzgebungsvorschlag auf die Verfehlungen einer Institution der ärztlichen Selbstverwaltung, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) reagiert. Deren Mix aus Korruption, Intrigen und Selbstbereicherung hat das öffentliche Vertrauen in die Selbstverwaltung insgesamt erschüttert. Um es klar zu sagen: Die Missbrauchsvorwürfe und Verfehlungen innerhalb der KBV müssen konsequent aufgeklärt werden. Ob es dafür ein Gesetz bedarf oder ob die bestehenden Regelungen nicht für eine effiziente Aufsicht durch das Ministerium ausreichen, wird im Bundestag zu diskutieren sein.
Der Gesetzentwurf des BMG soll die KBV treffen, schießt aber auf alle Spitzenorganisationen im Gesundheitsbereich mit Selbstverwaltung. Das Versagen der KBV darf nicht zu einer effektiven Beschneidung von Selbstverwaltungskompetenzen führen oder gar zur Blaupause für Debatten um die Zukunft der Selbstverwaltung werden. Deren Wert ist zu hoch, als dass er leichtfertig mit einem Gesetz aufs Spiel gesetzt werden darf.
Im anstehenden Gesetzgebungsverfahren müssen demnach weitere Änderungen vorgenommen werden, damit dieses Gesetz wirklich zu einem „Selbstverwaltungsstärkungsgesetz“ wird. Es bleibt dabei: Es wird keine Entwicklung von einer Rechts- zu einer Fachaufsicht geben, die sich dann anmaßt, die internen Prozesse der Selbstverwaltungsorgane zu steuern. Eine gute Selbstverwaltung braucht eigenverantwortliche Gestaltungsspielräume. Hierzu gehört insbesondere die Satzungsautonomie, in die der Gesetzgeber nicht eingreifen sollte. Einen Übergang von der Selbst- zur Fremdverwaltung werden wir nicht mittragen. Sie würde auch die anstehenden Sozialwahlen ad absurdum führen.
Um die Wahlen stärker im Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern, hat die Gewerkschaft ver.di eine Transparenzinitiative angekündigt. Dies ist der richtige Weg. Eine hohe Wahlbeteiligung bei den Sozialwahlen am 31. Mai ist wichtig, dafür müssen alle demokratischen Parteien und die Sozialpartner werben. Eine starke Selbstverwaltung ist eine tragende Säule der Sozialversicherung im Interesse aller Menschen in diesem Land. Angesichts der Abstiegsängste und realen Armut bei einem Teil der Bevölkerung ist ein soziales Netz, das Menschen in schwierigen Lebenslagen abfängt, wichtiger denn je.
Dieser Text erschien erstmals am 16. Januar 2017 in der Frankfurter Rundschau.