Wozu Sozialdemokratie?
Ein Diskussionsbeitrag von Hakan Demir und Dagmar Schmidt, Mitglieder des Vorstandes der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion. Eine kürzere Version dieses Textes ist auch in der Frankfurter Rundschau erschienen und hier zu finden.
Kriege, Krisen und der Aufstieg von autoritären Kräften gefährden den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Das gleichzeitig immer stärkere Auseinanderdriften von Arm und Reich, die zunehmende Komplexität von Staat und Verwaltung sowie fehlende Investitionen in unser Land und seine Menschen haben unsere Gesellschaft weniger widerstandsfähig werden lassen.
Mehr denn je braucht es in dieser Zeit eine Vision, die Hoffnung macht. Seit über 160 Jahren gibt es dafür die Sozialdemokratie: Aus der Arbeiterbewegung entstanden, kämpft sie seither für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität und verteidigt dabei die Gleichwertigkeit aller Menschen gegen menschenfeindliche Ideologien. Das gilt gestern wie heute.
Und sie übernimmt Verantwortung: Über Jahrzehnte waren wir in Regierungsverantwortung und haben unter anderem mit der Einführung des Elterngelds zu mehr Gleichberechtigung beigetragen, mit dem Mindestlohn Millionen von Menschen eine Gehaltserhöhung verschafft und mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts und der Ehe für Alle die Lebensrealität von Millionen auch gesetzlich verankert.
Aber: Wir sind auch in vielen Kompromissen unsichtbar geworden. Wir haben viel erreicht, es aber nicht geschafft, dabei das Vertrauen in die SPD zu stärken. Wir kämpfen für die Menschen in diesem Land, aber wir erreichen sie nicht. Wir haben das schlechteste Wahlergebnis unserer Geschichte erzielt, während die rechtsextreme AfD ein Viertel der Abgeordneten stellt. Das ist die bittere Wahrheit.
Dabei sind wir überzeugt: Uns braucht es mehr denn je. Die Sozialdemokratie ist die einzige integrative und emanzipatorische Kraft, die eine Balance zwischen den verschiedenen Interessen in unserer Gesellschaft schafft. Arbeit und Kapital, Wachstum und Umwelt, wirtschaftliche Freiheit und soziale Sicherheit sind keine unüberbrückbaren Gegensätze. Gerade in einer Zeit des Umbruchs und der Unsicherheit hat die Sozialdemokratie die Aufgabe, diese Gegensätze zum Wohle der Allgemeinheit aufzulösen.
Die politische Bewegung der sozialen Demokratie ist die einzige Kraft, die notwendige Reformen, Fortschritt und Modernisierung mit Hoffnung und Zuversicht verbinden kann. Die in der Dynamik der großen Trends und Umbrüche der Zeit wie Digitalisierung, KI und dem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt Gerechtigkeit und Teilhabe als Maßstab verankern kann. Und sie reicht weit über die SPD hinaus. Das demokratische Deutschland braucht eine Renaissance der sozialen Demokratie.
Und dazu braucht es eine ehrliche und selbstkritische Bilanz unseres politischen Handelns und der Strahlkraft unseres politischen Angebots. Wir sind fest davon überzeugt, dass immer noch eine große Mehrheit in Deutschland ein friedliches und gerechtes, ein respektvolles Zusammenleben möchte. Dass Wohlstand und Fortschritt für die Breite der Gesellschaft ermöglicht wird. Diese große Mehrheit glaubt aber nur in kleinen Teilen, dass die SPD die Kraft ist, dies zu erneuern und zu sichern.
Was ist zu tun? Jahrzehnte wurde die Infrastruktur in Deutschland kaputtgespart: Wir haben von der Substanz gelebt. Mit dem Sondervermögen der neuen Koalition von 500 Mrd. Euro schaffen wir eine wichtige Grundlage für einen ökonomischen, ökologischen und sozialen Fortschritt. Und dennoch befinden wir uns in einer schwierigen Situation: In der Koalition mit CDU/CSU sind wir auf zum Teil sehr harte Kompromisse angewiesen und müssen zeigen, dass wir aus der demokratischen Mitte heraus in schwierigen Zeiten gut regieren können. Gleichzeitig müssen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zeigen, dass wir stets mehr sind als der Koalitionsvertrag.
Dafür müssen wir mehr machen als bisher. Denn die Nachfrage nach autoritären Antworten unserer Gesellschaft nimmt mit der steigenden Ungleichheit zu. Steigende Preise, steigende Mieten, eine überbordende Bürokratie und Kriege verunsichern die Menschen in unserem Land Sie wollen Stabilität, Sicherheit und Zusammenhalt, stattdessen liefern Rechte und Konservative vermeintlich einfache Antworten auf komplexe Herausforderungen. Das alles sind Ablenkungsmanöver, die den Blick aufs Wesentliche versperren: Wenn Bürgergeldempfänger und Schutzsuchende allein ein Problem sind, fragt niemand mehr nach der Verantwortung von Eliten in Wirtschaft und Gesellschaft, von Reichen und Superreichen.
Die Zukunft muss wieder positiv sein. Mit mehr Gerechtigkeit: Dafür brauchen wir eine Wirtschaftsordnung, in der die Superreichen und Spitzenverdiener ihren fairen Beitrag zur Finanzierung der Gemeinschaft leisten. Wir brauchen deshalb einen handlungsfähigen Staat, in dem die breiten Schultern mehr tragen.
Mit mehr Solidarität: Lebensrisiken wie Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Alter wollen wir weiterhin absichern, Zugang zu guter Daseinsvorsorge darf nicht vom Geldbeutel abhängen und muss einfach möglich sein. Der Sozialstaat muss bürgernah sein, dazu gehört es unter anderem, Leistungen besser aufeinander abzustimmen, Verfahren zu vereinfachen und digitale Angebote zu ermöglichen.
Mit mehr Respekt: Wer sein ganzes Leben gearbeitet hat, muss im Alter auch anständig davon leben können. Das gilt auch für diejenigen, die unbezahlte Arbeit für Familie und Gesellschaft geleistet haben. Der Zugang zum Sozialstaat muss bürgernah, effizient
Mit mehr Humanität und Empathie: Die Würde des Menschen und seine sozialen Rechte sind unabhängig von seiner Leistung und seiner wirtschaftlichen Nützlichkeit. Darum ist die Gesellschaft bei Behinderung, bei Krankheit, im Alter, am Lebensanfang und am Lebensende zum Schutz der Menschenwürde besonders verpflichtet.
Mit mehr Freiheit: Mit der Freiheit in Frieden und Sicherheit zu leben, Algorithmen zu beherrschen, statt sich beherrschen zu lassen, durch Bildung und Wissen Fakten von Fakes zu unterscheiden und selbstbestimmt den eigenen Lebensplan verfolgen zu können.
Wir stehen vor großen Aufgaben. Die Sozialdemokratie muss ihren Beitrag leisten, dass diese Gesellschaft freier, gerechter und solidarischer wird. Aber sie kann das nicht allein. Die SPD muss Diskussionsraum und Motor (für Veränderung) sein, sie kann Anker und Unterstützerin sein, aber wir brauchen neben einer klaren Haltung politische Allianzen – vor Ort und bundesweit; mit anderen demokratischen Parteien, mit Gewerkschaften und Sozialverbänden, mit Sportvereinen, mit Kirchen, mit Organisationen, die gegen Diskriminierung kämpfen, die sich für gleiche Rechte für alle einsetzen und mit vielen anderen mehr – kurz: mit allen, die in einer sozialen Demokratie leben wollen. Die SPD lädt ein mitzumachen – mit und ohne Parteibuch, für eine lebendige Diskussion unter Demokratinnen und Demokraten über die Zukunft unseres Landes.