Björn, wie kam es eigentlich zur Gründung der „Gruppe der 16. Etage“?
BJÖRN ENGHOLM: Wir sind 1969 in den Bundestag mit 40 Neulingen eingezogen, von denen gut die Hälfte von der 60er-Jahre-Bewegung beeinflusst war. Wir waren allerdings keine reinen Utopisten, sondern haben als linke Pragmatiker auf realisierbare Visionen geschaut. Wir haben aber schnell festgestellt, dass viele Alteingesessene in der Fraktion nicht dieselben Ideen hatten wie wir. Etliche haben uns für linke Spinner gehalten. Und wenn wir inhaltlich gut waren, haben sie uns als Konkurrenz betrachtet. Wir stießen also auf eine durchhierarchisierte Fraktion, die fest in der Hand der „Kanalarbeiter“ war. Und die hatten alle wichtigen Positionen besetzt. Und sie achteten z. B. darauf, dass bei der Aufstellung der Rednerlisten wir Linken geringe Chancen hatten. Ich habe meine erste Rede erst nach zwei Jahren gehalten. Auch sonst hatten wir in den ersten Jahren wenig Gestaltungsraum. Wir hatten also großartige Ideen und waren ja wirklich bereit, praktisch zu arbeiten. Nur hat man uns die Möglichkeiten dafür beschnitten. Natürlich sind wir dann relativ früh auf die Idee gekommen, uns zusammenzutun. Denn Einzelkämpfer gehen in einer Fraktion unter. Und ein großer Teil von uns saß auf der 16. Etage des „Langen Eugen“. Auf den Fluren haben wir dann regelmäßig getagt, es gab natürlich auch Wein und Bier. Und so entstand die erste lockere Organisation in der „Gruppe der 16. Etage“. Wir waren in der guten Zeit vielleicht 20 Leute, die sich zu einer linken SPD-Position bekannt haben – und das mit viel Contra in der Fraktion. Aber in unserer Gruppe haben wir uns dann gegenseitig unterstützt. Denn wir wussten damals ja ganz genau, was einem blühte, wenn man in der Fraktion widersprach – ich sage nur: Herbert Wehner.
Spätestens nach ein paar Jahren seid ihr aber in der Fraktion angekommen.
BJÖRN ENGHOLM: Ja. Das Beibehalten von Gruppenzusammenhalt und die gegenseitige Solidarität in brenzligen Situationen haben dazu beigetragen, dass wir so nach drei, vier Jahren langsam Fuß gefasst haben. Mit der Zeit hat man unsere wirklich gute Arbeit auch honoriert. Das hat sich dann Mitte der 1970er Jahre eingependelt. Herbert Wehner hat uns dabei letztlich unter die Arme gegriffen. Der hat begriffen, dass es die Auffrischung durch die Jungen brauchte.
Ihr seid am Anfang ja aber auch vor allem durch spektakuläre APO-Aktionen aufgefallen. Sowohl in der Fraktion als auch in der Öffentlichkeit galtet ihr als „Juso-Lobby“ und als Revoluzzer.
BJÖRN ENGHOLM: Es ging uns aber nicht um Spektakel, sondern darum, die Verbindungen zu den Jusos um Voigt und Wieczorek-Zeul zu halten. Wir wollten aber auch Verbindung halten zu den kritischen Studenten, etwa zum SDS, der in unserer Fraktion damals als extremistisch galt. So sind wir einmal mit drei Leuten zum SDS-Kongress gefahren und haben SPD-Flagge gezeigt. Natürlich hat Wehner gewusst, dass wir in Kassel sind und hat eine namentliche Abstimmung gemacht. So etwas haben wir damals schon häufiger erlebt. Wir haben Aktionen gestartet gegen die Diktaturen in Portugal, Spanien und Südafrika. Wir haben die Vertreter der provisorischen Revolutionsregierung Südvietnam eingeladen. Das war schon sehr kontrovers. Damit wollten wir aber symbolisch auf unsere demokratischen und Friedenspositionen hinweisen. Dafür haben wir in der Fraktion dann kräftig Prügel bezogen. Aber – das war unsere Gruppensolidarität – es gab immer mehr als einen, der aufstand und unsere Meinung vertreten hat.
In diese Zeit fällt auch eure Abgeordneten-WG?
BJÖRN ENGHOLM: Das stimmt. Wir haben da zu sechst ein Haus gemietet. Das ist dann sofort zur Abgeordnetenkommune stilisiert worden. Die Jusos, andere Linke und Journalisten kamen zu uns, es wurde diskutiert – und auch gefeiert. Es war der Versuch, außerhalb des Bundestages eine Begegnungsstätte zu schaffen, um zwanglos, außerhalb der Politglocke miteinander verkehren und leben zu können. Das war am Anfang ein tolles Projekt. Aber natürlich hat sich keiner um den Abwasch oder die Heizung gekümmert. Die Arbeit blieb dann an zwei norddeutsch-protestantisch Erzogenen hängen. Einer davon war ich. Das war auch einer der Gründe, wieso das Projekt nach zwei Jahren aufgegeben wurde. Obwohl es sehr schön war.
Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich in diesen frühen Jahren viel in der Fraktionslinken verändert hat. Einerseits musstet ihr euch an die parlamentarischen Mechanismen anpassen und wart in die mitunter langsamen Mühlen der Reformpolitik eingebunden. Andererseits habt ihr ja an euren sozialistischen Positionen und anderen Gesellschaftsvorstellungen festgehalten. Wie hast du diese Spannung wahrgenommen?
BJÖRN ENGHOLM: Es gab innerhalb der Fraktionslinken eine weitgehende Übereinstimmung, dass wir unsere progressiven Visionen pragmatisch umsetzen müssen. Darüber haben wir viel mit Jochen Steffen, Peter von Oertzen, Hans Matthöfer und anderen diskutiert. Klar war: mit einer linken Gesinnung allein kommen wir in einer arbeitsteiligen Fraktion mit akutem Arbeitsdruck nicht weiter. Wir im Bundestag verfranzten uns deshalb nie so tief in den Theoriedebatten. Das war eher der Frankfurter Kreis. Jochen Steffen hat zum Beispiel eine Stunde über strukturelle Revolution gesprochen. Und dann gingen wir nach Hause und haben uns gefragt, was wir für unsere parlamentarische Arbeit mitnehmen. Und natürlich hatten die meisten Jochen Steffens Buch über strukturelle Revolutionen nicht gelesen. Geschweige denn verstanden. So ähnlich war es auch mit Peter von Oertzen. Die haben wir respektiert, aber auch nicht immer völlig ernst genommen. Es gab aber immer den Versuch einer Rückkopplung an die Parteilinke. Wir waren auf den Treffen des Frankfurter Kreises. Es war wichtig, die Pragmatiker des Leverkusener Kreises und die Theoretiker aus der Partei zusammenzuführen. Das zu realisieren, war der große Verdienst von Hans Matthöfer.
Was sind denn Erfolge der Fraktionslinken, auf die du bis heute stolz bist?
BJÖRN ENGHOLM: Für mich natürlich die Hochschulreform. In den Hochschulgesetzen haben wir die Frage der Mitbestimmung für Studenten und Mittelbau stark gemacht. Wir haben die Öffnung der Hochschulen vorangetrieben für Arbeiterkinder und junge Frauen. Und die Berufsbildung modernisiert – und in der Rechtspolitik signifikante Reformen durchgesetzt. Und versucht, die Konzentration von Medienmacht zu begrenzen. Ja, es ging, aber immer Schritt für Schritt für Schritt. Wir haben Kompromisse geschlossen und sind so sukzessive unseren Zielen näher gekommen. Anders kann man Parlamentspolitik nicht machen. Wir waren nun einmal keine Juso-Versammlung mehr, sondern Teil einer Fraktion.
Im Leverkusener Kreis, wie die Fraktionslinke ab 1972 hieß, hat es insbesondere nach Abflauen der großen sozialliberalen Reformen immer wieder Auseinandersetzungen um die und mit der Schmidt-Regierung gegeben.
BJÖRN ENGHOLM: Zunächst konnten wir Geld in den Ausbau der Hochschulen stecken, wir haben die duale Berufsausbildung wirklich progressiv umgestaltet, Bafög und so weiter auf den Weg gebracht. Damit haben wir die Situation von vielen jungen Leuten wirklich verbessert. Als dann der Reformelan ab Mitte der 1970er erlosch und alle nur noch von der Krise der öffentlichen Finanzen gesprochen haben, sind viele wichtige Modellversuche zum Erliegen gekommen. Die Gesamtschulversuche konnten zum Beispiel nicht mehr im erforderlichen Maße aufrechterhalten werden, und die Hochschuloffensive begann zu schwächeln, weil der Bund nicht mehr konsequent mitfinanzierte. Der linke Elan war nicht weg, verlor aber seinen Drive. Das war schon enttäuschend. Der Leverkusener Kreis ist dann ja auch entlang dieser Spaltungslinien ausgelaufen und hat sich 1980 als Parlamentarische Linke neu konstituiert. Und diese Probleme sind ja bis heute für eine linke Reformpolitik akut.
Nachdem Kevin Kühnert in einem Interview über den demokratischen Sozialismus nachgedacht hat, wird ja wieder das große Ganze diskutiert. Als alter „Juso-Lobbyist“: Was sagst du dazu?
BJÖRN ENGHOLM: Es braucht diese Anstöße. Sie dürfen aber nicht spontan kommen, sondern von vornherein so angelegt sein, dass sie jeder Frage standhalten. Wir müssen zum Beispiel die Möglichkeiten adressieren, die in einer auf gleichere Verteilung gerichteten Steuer- und Finanzpolitik liegen. Wir müssen also zunächst einmal die Instrumente schärfen, die es gibt. Uns vielleicht besser über realisierbare Wege unterhalten, die den Menschen ganz konkrete Verbesserungen bringen. Mehr praktische Verantwortung als bloße Gesinnung!
Mit deinem Blick zurück: Was rätst du deinen Nach-Nachfolgern?
BJÖRN ENGHOLM: Erstens Solidarität gegen Vereinzelung, nicht nur in Partei und Fraktion: in der Gesellschaft! Das Zweite ist Fachkompetenz. Wenn man alternative Meinungen vertritt, dann muss man das argumentativ durchfechten können. Und drittens muss man Stil dabei haben, Haltung im Auftritt, in Sprache und Ratio in der Argumentation. Und wir haben eines von den Kanalarbeitern gelernt. Die haben schnell begriffen, dass es in der Glocke Bonn Geselligkeit brauchte. Die waren in ihrer Kneipe, haben von ihren Familien erzählt, gewitzelt – und tüchtig einen verballert. Mein Freund Hugo Brandt, für mich einer der feinsten Parlamentarier dereinst, hat dann begonnen, etwas für die Geselligkeit zu tun. Hugo kam aus einem pfälzischen Wahlkreis mit Dutzenden Winzern. Er brachte eine Karte mit, heftete sie an die Innentür des eigenen Bundestags-Büros. Und dann mussten wir die Augen zu machen und einen Dartpfeil auf die Karte schmeißen. Zack! Da, wo der Pfeil ankam, sagte Hugo: „Von dem Winzer dort beschaffe ich für das nächste Zusammentreffen eine Kiste Wein.“ Was dem inneren Zusammenhalt dienlich war! Aber vor allem: Das Berufsziel Karriere gab es bei uns lange Zeit nicht. Uns ging es immer vor allem um Inhalte. Das Mandat war primär Instrument zur Durchsetzung sozialer Interessen, nicht eines zur Selbstverwirklichung.