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Mit etwa 350 Gästen aus Politik und Zivilgesellschaft feierte die Parlamentarische Linke in der SPD-Bundestagsfraktion zum Auftakt in die 20. Wahlperiode des Deutschen Bundestag im September ihr diesjähriges SpätSommerfest in der Alten Pumpe in Berlin. Nachdem das Fest aufgrund der Coronapandemie merhfach verschoben werden musste, freuten wir uns, dass wir nun zwei Tage nach der Bundestagswahl gleich auch auf den Wahlsieg der SPD angestoßen konnten.

Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Die größte Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ist eine solche Situation. Wir müssen klotzen und die Wirtschaft in einer Weise mit Finanzmitteln stützen, wie dies seit Bestehen der Bundesrepublik noch nie der Fall war. Nur so können wir die Zukunft der jüngeren Generationen sichern. Und nur so können wir den Weg zu einem nachhaltigen und sozialen Umbau unseres Wirtschaftssystems fortsetzen.

Die vergangenen Krisen müssen uns eine Lehre sein. Auf zögerliches Verhalten und falsche Sparmaßnahmen, wie etwa nach der Finanzkrise in Südeuropa, folgte meist ein Jahrzehnt der Stagnation und Perspektivlosigkeit. Das trifft besonders die jungen Menschen. Nur wenn die öffentliche Hand jetzt entschieden handelt und glaubwürdig Sicherheit ausstrahlt, können die Menschen wieder Hoffnung für die Zukunft entwickeln und damit auch neue Perspektiven für die Wirtschaft in Deutschland und Europa schaffen. Das Konjunkturpaket der Bundesregierung ist deshalb volkswirtschaftlich notwendig, richtig und generationengerecht. Nicht Schulden belasten die Zukunft der kommenden Generationen, sondern mögliches Zögern und Zaudern.

Die Corona-Pandemie hat allen vor Augen geführt, wie wichtig ein verlässlicher und starker Sozialstaat ist. Etwa bei der Gesundheitsversorgung, beim Katastrophenschutz, bei der Abfederung der wirtschaftlichen Folgen für Unternehmen und Bürger*innen, bei Wissenschaft, Bildung und Betreuung, bei der digitalen Infrastruktur usw.

Es ist eben kein Zufall, dass in den USA und in Großbritannien die Dinge schlechter gelaufen sind: Eine unfähige rechtspopulistische Führung, aber eben auch systematische Vernachlässigung staatlicher Handlungsfähigkeit und ein schwacher Sozialstaat führen zu schlimmen Konsequenzen für die Bevölkerung.

Im Kontrast dazu sind die Vorteile funktionierender staatlicher Leistungen, eines starken, reaktionsfähigen und sozialen Staates in den letzten Monaten deutlich geworden. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind stolz, dass es – trotz manch strittiger Weichenstellungen in der Vergangenheit – nicht zuletzt der SPD zu verdanken ist, dass wir noch über diese staatliche Handlungsfähigkeit verfügen.

Die Corona-Krise zeigt aber auch die teilweise schmerzlichen Schwächen der öffentlichen Infrastruktur: Über Jahrzehnte hinweg haben alle politischen Ebenen an notwendigen Investitionen gespart. Die heutige Wirtschaftskrise muss deshalb auch als Chance genutzt werden, durch groß angelegte Investitionsprogramme unser Land zu modernisieren und fit zu machen für die Zukunft. Die Weichenstellungen von heute sind die Zukunftsperspektiven der nächsten Generationen. Deshalb ist es wichtig, dass das aktuelle Konjunkturprogramm und die nächsten Bundeshaushalte einen Schwerpunkt auf Investitionen legen, mit denen die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit und zu mehr Klimaschutz gestaltet werden kann. Im Zentrum müssen stehen: Ausbau und Verbesserungen bei Bildung, Forschung und Entwicklung, Verkehrsinfrastruktur, Digitalisierung, die Transformation hin zu einem klimaneutralen Industriemodell, die Energiewende und spürbarer Ausbau unseres Gesundheitswesens.

Die Bürgerinnen und Bürger treibt zu Recht die Frage um: Wie soll es nach der Krise weitergehen? Können wir uns all die Maßnahmen überhaupt leisten? Es wird sich in den nächsten Monaten entscheiden, ob wir diese Krise solidarisch meistern und die Lasten gerecht verteilen oder ob Sozialabbau und eine weitere Umverteilung von unten nach oben folgt. Die Gretchenfrage lautet also: „Wie hältst du´s mit der Finanzierung“?

Vertreter von CDU und CSU fordern wegen der kreditfinanzierten Maßnahmen von über 200 Milliarden Euro in der Bundesrepublik und der zusätzlichen über 750 Milliarden der EU schon jetzt eine schnelle Schuldentilgung und die Kürzung staatlicher Leistungen, am besten noch verbunden mit einer drastischen Senkung der Unternehmenssteuern. Deren These: Erst durch die Schuldenbremse und ausgeglichene Haushalte habe der Staat die Voraussetzungen für die Krisenmaßnahmen und aktuelle Neuverschuldung geschaffen und der Staat müsse daher schnell wieder dahin zurück. Richtig ist: Grundlage für die hohe Leistungsfähigkeit Deutschlands sind vielmehr das wirtschaftliche Wachstum und die guten Arbeitsmarktzahlen. Hätte es in den vergangenen Jahrzehnten mehr Investitionen in den oben genannten Bereichen gegeben, dann wären die Voraussetzungen, stark aus der Krise herauszukommen, noch besser und die sozialen Verwerfungen geringer gewesen. Die Lehre aus dieser Krise heißt also: Investiere rechtzeitig, dann hast du in der Not.

Dennoch wollen CDU und CSU eine schnelle Schuldentilgung bei gleichzeitig sinkenden Einnahmen und vehement geforderten Steuersenkungen für Besserverdienende. Die Folgen dieser Politik wären volkswirtschaftlich verheerend und für den sozialen Zusammenhalt fatal, denn sie würden milliardenschwere Belastungen für den Haushalt bedeuten, die durch große Einschnitte in die soziale Sicherung und die öffentliche Infrastruktur kompensiert werden müssten. Das hieße konkret: Lohnkürzungen bei Beschäftigten, gerade auch in den sogenannten „systemrelevanten“ Berufen, eine weitere Verschiebung der dringend notwendigen Investitionen in die Zukunftsfähigkeit Deutschlands und eine Beschneidung des Sozialstaats, obwohl dieser zur Bewältigung dieser Krise so kraftvoll beigetragen hat. Die Aussagen führender Politiker von CDU und CSU weisen genau in die Richtung einer solchen Umverteilung von unten nach oben. Das aber würgt den konjunkturellen Motor ab, der so ins Stottern gerät; das gefährdet Arbeitsplätze und wäre gesellschaftlich völlig unverträglich. Die große Mehrheit der Ökonominnen und Ökonomen, darunter auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, empfiehlt daher eindringlich, weiterhin massiv in die Überwindung der Krise zu investieren und den konjunkturellen Aufschwung nicht kaputtzusparen.

Auch unsere Sozialversicherungssysteme geraten durch Kürzungen und Sparmaßnahmen nur in eine Spirale nach unten. Sie sind auf Dauer nur sicher, wenn die Beitrags- und Steuerfinanzierung von einer starken Konjunktur getragen wird.

Wir wollen, dass der deutsche und europäische Motor wieder auf Hochtouren läuft. Dazu wollen wir weiter in die Zukunft investieren und die Krise in Europa solidarisch überwinden. Dazu wollen wir größere Anstrengungen zur Bekämpfung des Klimawandels unternehmen. Und dazu wollen wir, dass die Automobilindustrie in Deutschland endlich wieder dahin kommt, wo sie hingehört: an die Weltspitze – mit klimaneutralen Fahrzeugen und Antriebstechnologien. Der VW Käfer des 21. Jahrhunderts sollte in deutschen Werken zu guten Tariflöhnen gefertigt werden. Nur so kann Deutschland in und gemeinsam mit Europa seinen Platz als weltweit führender Industriestandort bewahren. Für diese Transformation brauchen wir heute massive Investitionen, nicht zuletzt in die Energiewende. Sie werden sich auszahlen. Sie heute zu unterlassen, das wäre die echte Belastung für kommende Generationen.

Der von Finanzminister Olaf Scholz initiierte deutsch-französische Vorschlag für ein milliardenschweres europäisches Konjunkturprogramm war die Initialzündung für eine schlagkräftige gesamteuropäische Krisenbekämpfung. Das Konjunkturprogramm ist nicht nur die richtige solidarische Antwort auf die gemeinsame Krise, sondern auch im Interesse unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Unternehmen in Deutschland. In keinem Land hängen wirtschaftliche Prosperität und Arbeitsplätze so sehr von einem geeinten und starken Europa ab wie Deutschland.

Das vom Europäischen Rat Ende Juli 2020 beschlossene Corona-Hilfspaket (390 Mrd. Euro Zuschüsse, 360 Mrd. Euro Kredite für den Solidarischen Wiederaufbaufonds, weitere rund 1.000 Mrd. Euro für 2021-2027 zur Bewältigung gemeinsamer Aufgaben in der EU im Mehrjährigen EU-Finanzrahmen), ist Ergebnis unseres beherzten Vorschlags. Wir begrüßen und unterstützen die Finanzierung der erforderlichen Investitionen durch gemeinschaftliche EU-Anleihen. Die NextGenerationEU-Programme versetzen die Mitgliedstaten über Kredite in die Lage, ihre Reformpläne z. B. für den ökologischen und digitalen Wandel, die nationalen Energie- und Klimapläne sowie die Pläne für einen gerechten Übergang zu realisieren.

Am anderen Ende der politischen Ebene müssen wir dafür sorgen, die Investitionsfähigkeit der Kommunen dauerhaft zu stärken. Über 65 % der öffentlichen Investitionen werden in den Kommunen getätigt. Wir brauchen starke Kommunen, um aus dieser Krise herauszuwachsen. Es ist deshalb richtig, dass wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Städte und Gemeinden mit einer höheren Übernahme von Sozialkosten und der Kompensation der Gewerbesteuerausfälle unterstützen. Die von Olaf Scholz vorgeschlagene Altschuldenregelung steht weiterhin auf unserer Agenda und hier sind jetzt vor allem die Bundesländer gefragt. Eine bloße Kompensation struktureller Defizite der Vergangenheit und auf Corona zurückzuführender Einnahmeeinbußen reicht allerdings nicht aus. Die Kommunen müssen über entsprechende Steuereinnahmen und Schuldenregelungen in die Lage versetzt werden, notwendige Zukunftsinvestitionen aus eigener Kraft zu finanzieren.

Bei der Finanzierung der Krisenlasten und der Zukunftsinvestitionen bauen wir auf zwei Säulen.

Kern einer nachhaltigen Staatsfinanzierung bleibt eine Besteuerung der Einkommen und Vermögen nach Leistungsfähigkeit. Zahlreiche Studien der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Einkommens-, vor allem aber die Vermögensungleichheit seit den 2000er Jahren trotz dem vor Corona langen Aufschwung auf hohem Niveau verharrt. Eine zu große soziale Ungleichheit ist nicht nur ungerecht, sondern auch volkswirtschaftlich schädlich, da sie das Wachstum hemmt. Die Corona-Krise hat Ungleichheiten noch einmal verschärft.

Wir wollen deshalb eine gerechte Primärverteilung des Bruttoinlandsprodukts, also eine angemesse Entlohnung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Höhere Tariflöhne und gestärkte Tarifbindung, ein Ende sachgrundloser Befristungen und eine drastische Verringerung atypischer Beschäftigungsverhältnisse sowie ein Mindestlohn von mindestens 12 Euro sind hierzu richtige Maßnahmen. Bei der Sekundärverteilung kann nur eine leistungsgerechte Steuerbeteiligung aller dazu beitragen, dass Investitionen und Innovationen zu einem höheren Lebensstandard für alle führen. Dazu ist eine Vermögensteuer mit progressiver Ausgestaltung ebenso notwendig wie eine effektive Erbschaftsbesteuerung insbesondere der großen Betriebsvermögen sowie eine Bodenwertzuwachssteuer, um leistungslose Bodenwertsteigerungen an die Gesellschaft zurückzugeben. Auch wollen wir sämtliche Finanztransaktionen besteuern sowie Kapitaleinkünfte konsequent nach dem individuellen progressiven Einkommensteuersatz behandeln. Das von CDU/CSU und FDP geforderte Ende des Solidaritätszuschlages auch für die oberen zehn Prozent der Einkommensbeziehenden kann es nur dann geben, wenn dieser Personenkreis einen entsprechend höheren Beitrag in der Einkommensteuer leistet.

Die zweite Säule sind kreditfinanzierte Konjunkturpakete und Investitionen. Schulden sind dabei nicht per se gut, aber auch nicht per se schlecht. In der aktuellen Situation ist der Umfang der Maßnahmen der Situation angemessen und volkswirtschaftlich richtig. Die kreditfinanzierten Konjunkturprogramme bedeuten den Erhalt von Unternehmen und Arbeitsplätzen und sind die Steuereinnahmen von morgen. Bei einem Zinssatz der 30-jährigen Staatsanleihen von 0,0 % ist das nicht eine Belastung der kommenden Generationen, sondern Voraussetzung für deren positive Zukunft und eine moderne Infrastruktur. Wie wenig belastend ein höherer Schuldenstand ist und warum wir Schulden nicht schnell tilgen, sondern aus ihnen mit starken Wachstumsimpulsen herauswachsen müssen, zeigt die Finanzkrise vor 10 Jahren. Der Schuldenstand Deutschlands war damals um über 500 Mrd. Euro (siehe hier und hier) auf über 2 Billionen Euro und die Staatsverschuldungsquote auf über 80 % des BIP (Bruttoinlandsprodukt) gestiegen. Zehn Jahre später ist die Schuldenquote auf unter 60 % gefallen, aber der Schuldenstand nur um ca. 50 Mrd. € gesunken. Eine Volkswirtschaft und der Staat funktionieren ganz offensichtlich anders als ein Privathaushalt. Die mit Krediten finanzierten Konjunkturprogramme erhalten Arbeitsplätze, verringern damit die Sozialausgaben und sichern die staatlichen Einnahmen von morgen. Zudem ist der Staat ein institutionell „ewig“ lebender, guter Schuldner und braucht daher seine Schulden nicht sofort oder (zu) schnell zurückzuzahlen, sondern muss aus ihnen herauswachsen. In einer Krise wie der jetzigen sind zunächst nur Zinszahlungen zu bedienen. Sind die Zinsen Null, entsteht somit keine Belastung der laufenden Haushalte. Erst wenn die Zinsen wieder steigen, ist dies der Fall. Bei den gegenwärtigen Staatsanleihen dauert dies mindestens dreißig Jahre. Bis dahin sollte man die Schulden vorsichtig zurückführen – auf der sicheren Basis einer wieder gestärkten Konjunktur und ohne diese übermäßig zu belasten.

Die gegenwärtigen Fiskalregeln sind vor diesem Hintergrund zu eng gestrickt. In Deutschland wie auch in Europa brauchen wir deshalb Fiskalregeln, die neben der Ausgabenkontrolle den Staaten ausreichend Möglichkeiten für eine kurzfristige Stabilisierung der Gesamtwirtschaft und die langfristige Modernisierung des öffentlichen Kapitalstocks über Investitionen gibt. Die Ergänzung der deutschen Schuldenbremse und des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts um eine Goldene Regel für Investitionen wäre ein erster richtiger Schritt. Auch die Anhebung der Maastrichter Schuldenquote ist volkswirtschaftlich richtig. Wie tragfähig Staatsschulden sind, hängt u.a. vom Realzins und dem realen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ab. Der aktuelle Zinssatz liegt unter der Wachstumsrate. Bei einem Budgetdefizit von drei Prozent des BIP, einer Inflationsrate, die dem Zielwert der Europäischen Zentralbank (EZB) von knapp zwei Prozent entspricht, und einer realen Wachstumsrate von einem Prozent, wäre nach Berechnung einer Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) eine Schuldenquote von bis zu 100 Prozent ohne Probleme verkraftbar – und damit notwendige Investitionen in die Zukunftsfähigkeit Deutschlands und Europas finanzierbar. Inklusive eines „Sicherheitspuffers für unvorhergesehene Krisen“ ist eine Anhebung der Obergrenze von den willkürlichen 60 % auf 90 Prozent des BIP begründbar und sinnvoll.

Auch bedarf es eines Verfahrens zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte. Langfristig muss sich die europäische Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht an abstrakten Fiskal- und Wettbewerbsregeln orientieren, sondern das klare Ziel der Vollbeschäftigung sowie gleicher, guter und nachhaltiger Lebensverhältnisse für alle Europäer verfolgen.

Die Pandemie hat die Politik in Deutschland vor beispiellose Herausforderungen gestellt. Die Verantwortlichen in Kommunen, Ländern und Bundespolitik haben bislang gut bestanden. Auch und gerade die Koalition aus CDU/CSU und SPD hat das getan, was die Bürger*innen von ihrer politischen Führung erwarten dürfen: verantwortungsvolles, gemeinsames, erfolgreiches Handeln.

Gleichzeitig bleiben die programmatischen Unterschiede zwischen den Parteien bestehen – ja, sie werden bei den weiteren anstehenden Entscheidungen zur Bewältigung der Krise und zu den Lehren aus der Pandemie noch schärfer hervortreten: Wir setzen nicht auf den neoliberalen Weg der Schwächung des Staates, eine die Wirtschaft strangulierende allzu rasche Schuldentilgung und der Privatisierung, sondern auf einen verlässlichen, starken und sozialen Staat, der Freiheit, wirtschaftliche Prosperität, Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten durch gute Rahmenbedingungen, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit schafft.

 

Das Papier als pdf-Datei zum Download gibt es hier.

 

Mit über 350 Gästen aus Politik und Zivilgesellschaft hat die Parlamentarische Linke auch in diesem Jahr ihr fast schon traditionelles Sommerfest gefeiert. Bei hochsommerlichen Temperaturen gab es in der Berliner Kalkscheune gleich mehrfachen Grund zur Freude.

Am Dienstag, den 3. Juli 2018 fand in der Berliner Kalkscheune das diesjährige PL-Sommerfest statt. In entspannter Atmosphäre feierte die Parlamentarische Linke und ließ gemeinsam mit den Gästen aus Politik, Medien, Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft bei schönstem Wetter die letzte Sitzungswoche des Bundestages vor der parlamentarischen Sommerpause ausklingen. Matthias Miersch, Sprecher der Parlamentarischen Linken, kommentierte in seinen Begrüßungsworten den Streit zwischen den Unionsfraktionen und bezeichnete das Gebären der CSU als „Ego-Trips ganz nach dem Vorbild der Trumps dieser Welt“. Andrea Nahles, SPD-Fraktions- und Parteivorsitzende bekräftigte zu späterer Stunde, es werde keine Einigung im Asylstreit geben, die dem Fünf-Punkte-Plan der SPD oder dem Koalitionsvertrag entgegenstehe. Außerdem sprachen Bundesjustizministerin Katharina Barley sowie Olaf Scholz, Vizekanzler und Bundesfinanzminister Grußworte an die Gäste.

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Das allgemeine und gleiche Wahlrecht ist die tragende Säule unserer Demokratie. Trotzdem dürfen es nicht alle volljährigen deutschen Staatsbürger ausüben. Paragraf 13 des Bundeswahlgesetzes legt fest, welche Personengruppen nicht an der Wahl zum Deutschen Bundestag teilnehmen dürfen. Demnach sind vor allem diejenigen vom Wahlrecht ausgeschlossen, für die ein gesetzlicher Betreuer zur Regelung all ihrer Angelegenheiten bestellt ist – die sogenannten „dauerhaft Vollbetreuten“.

Für die Betroffenen ist das oft schwer erträglich. „Es ist bedrückend, nicht wählen zu dürfen. Alle dürfen das, auch die anderen Menschen mit Behinderung aus meiner Wohngemeinschaft“, sagte zum Beispiel Klaus Winkel gegenüber dem Spiegel. Winkel ist geistig behindert, aber durchaus in der Lage, seine Interessen deutlich zu machen. Er klagt derzeit gemeinsam mit anderen Betroffenen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Wahlrechtsentzug.

Betreuungen werden vom Betreuungsgericht immer dann angeordnet, wenn Betroffene aufgrund von psychischen Krankheiten oder Behinderungen ihre rechtlichen Angelegenheiten nicht mehr selbst regeln können. Die Betreuung darf sich dabei jedoch nur auf solche Aufgabenbereiche beziehen, die die Betroffenen nicht eigenständig erledigen können. Ist das Betreuungsgericht der Auffassung, dass der Betroffene keinerlei rechtliche Angelegenheiten mehr selbstständig regeln kann, so ordnet es eine dauerhafte Vollbetreuung an. Damit wird den Betroffenen gleichzeitig und automatisch auch das Wahlrecht entzogen.

Unvereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention

Dieser automatische Entzug des Wahlrechts wird zu Recht kritisiert. Der UN-Ausschuss zum Schutz der Menschen mit Behinderungen hat den deutschen Gesetzgeber aufgefordert, ihn aufzuheben, da er gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstoße. Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben reagiert und im vergangenen Jahr entsprechende Wahlrechtsausschlüsse aus ihren Landeswahlgesetzen gestrichen.

So wird festgestellt, dass Vollbetreute nicht unbedingt schwer beeinträchtigt sind. Viele Personen mit schwersten geistigen Behinderungen sind überhaupt nicht voll betreut, weil dies aufgrund ihrer Dauerhospitalisierung nicht erforderlich ist, sprich: Sie nehmen am öffentlichen Leben nicht mehr teil. Gleichwohl sind sie wahlberechtigt. Viele leichtgradig beeinträchtigte Personen hingegen sind auf eigenen Wunsch hin aus Selbstschutz vor Risiken voll betreut. Viele von ihnen allerdings sind politisch informiert und entscheidungsfähig. Sie wollen wählen.

Weiter wird festgestellt, dass 2014 und 2015 in Deutschland 81.220 Vollbetreute vom Wahlrecht ausgeschlossen waren. Dabei gibt es ein starkes regionales Ungleichgewicht. Während in Hamburg und Bremen auf je 100.000 Bürger jeweils weniger als zehn Wahlrechtsentzüge kommen, sind es in Nordrhein-Westfalen 165 und in Bayern sogar 204. In Bayern ist die Wahrscheinlichkeit eines Wahlrechtsausschlusses also um ein Zigfaches höher als in Bremen. Als könne es ernsthaft vom Wohnort abhängen, ob und wann eine Vollbetreuung angeordnet wird.

Dies ist umso bedenklicher, als es sich beim Verlust des Wahlrechts um einen massiven Eingriff in die Rechte der Betroffenen handelt. Die Schwere dieses Eingriffs setzt eigentlich voraus, dass sich die Gründe explizit auf die Fähigkeit des Betroffenen zur Ausübung des Wahlrechts beziehen.

Gleiches wird ungleich behandelt

Schließlich lässt sich durchaus argumentieren, dass jemand, der zwar keine Kaufverträge mehr abschließen darf, trotzdem noch wählen können sollte. Durch die Wahl entsteht ihm kein Vermögensnachteil. Und gerade die Schwächsten einer Gemeinschaft müssen ein Recht haben, auf Veränderungen hinzuwirken, auch und gerade wenn diese nur einen kleinen, eben noch nachvollziehbaren Nahbereich betreffen. Genau das ist aber nach der geltenden Rechtslage nicht der Fall. In die Entscheidungsfindung des Gerichtes zur Geschäftsfähigkeit fließen keinerlei Überlegungen zur Wahlrechtsfähigkeit der Betroffenen ein. Das allgemeine Wahlrecht geht – quasi als Nebenwirkung – automatisch verloren, wenn das Gericht zu der Auffassung gelangt, dass eine Vollbetreuung notwendig ist.

Dass mit dem Verlust der Geschäftsfähigkeit keineswegs zwangsläufig auch das Wahlrecht verloren gehen muss, zeigt der Vergleich mit sogenannten Vorsorgevollmachten. Hat eine später geschäftsunfähig gewordene Person rechtzeitig vorher durch eine Vorsorgevollmacht entschieden, wer ihre Angelegenheiten regeln soll, so kann eine Vollbetreuung gerichtlich nicht angeordnet werden. Ein Wahlrechtsentzug kann damit auch nicht stattfinden. Gleiches wird also ungleich behandelt. Denn diejenigen, die in gleicher Weise beeinträchtigt sind, aber keine Vorsorgevollmacht ausgestellt haben, verlieren ihr Wahlrecht.

Die SPD-Bundestagsfraktion hat deshalb beschlossen, den Wahlrechtsausschluss aus dem Bundeswahlgesetz und dem Europawahlgesetz zu streichen. Dieser Vorstoß scheiterte in diesem Frühjahr an der CDU/CSU-Fraktion. Es steht zu hoffen, dass sich der nächste Bundestag einsichtiger zeigt als der jetzige. Denn es wäre peinlich, wenn wieder einmal das Bundesverfassungsgericht das Parlament korrigieren müsste.

 

Dieser Artikel erschien zuerst am 13.6.2017 auf ZEIT ONLINE.

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In der Debatte um die transatlantischen Freihandelsabkommen hat die SPD einen sachbezogenen Weg gewählt, statt sich pauschal auf ein Ja oder Nein festzulegen. Wir sind davon überzeugt, dass die Globalisierung Regeln braucht, damit sie nicht zu einem Wettlauf der Standards nach unten führt. Ziel muss es sein, Spielregeln festzulegen, die für alle Länder gelten. Leider stockt der Prozess über eine Reform der WTO seit Jahren, aber das Pariser Klimaschutzabkommen und die Vereinbarung globaler Nachhaltigkeitsziele machen Mut. Auch bilaterale Freihandelsabkommen können Standards setzen und den Prozess positiv beeinflussen. Es ist deshalb sinnvoll, über solche Abkommen zu verhandeln. Mit der SPD wird es aber keinen Freifahrtschein für TTIP und CETA geben. Die Sozialdemokratie hat wie keine andere Partei die Gerechtigkeit als Markenkern – deshalb ist für uns die Frage zentral, wie die Globalisierung gestaltet werden kann.

Weitere Verhandlungen machen keinen Sinn

Seit den #TTIPLeaks ist schwarz auf weiß nachzulesen, dass die großen Vorbehalte, die es in der Bevölkerung seit langer Zeit gibt, begründet sind. Es sind aber nicht nur die veröffentlichten Dokumente, die uns zum Zweifeln bringen, sondern vor allem der aktuelle Stand der Verhandlungen. Wenn die US-Administration sich in zentralen Fragen wie Vorsorgegrundsatz, Lebensmittelsicherheit und Investitionsschutz nicht bewegt, ist der Zeitpunkt gekommen, an dem man ehrlich sagen muss: Nach dem derzeitigen Verhandlungsstand wird es nicht möglich sein, einen Vertragstext zu finden, der in irgendeiner Form den Ansprüchen der SPD genügt. Gleichzeitig ist es angesichts der kritischen Haltung aller US-Präsidentschafts-BewerberInnen zu TTIP sehr unwahrscheinlich, dass überhaupt ein Abkommen zustande kommt. Unter solchen Bedingungen macht es schlicht keinen Sinn, weiter zu verhandeln.

Positive Veränderungen bei CETA

In den Verhandlungen über das europäisch-kanadischen Abkommen CETA ist es der SPD dagegen gelungen, Veränderungen zu erreichen, die mit einer Verweigerungshaltung nicht zustande gekommen wären. Diese Veränderungen müssen nun ausgewertet werden. Der Vertragstext liegt mittlerweile vor und wird voraussichtlich im Juni dieses Jahres übersetzt sein. Dann ist ein sorgfältiger Abgleich mit den roten Linien notwendig, die die SPD auf dem Parteikonvent im September 2014 und auf dem Bundesparteitag im Dezember 2015 beschlossen hat. Der Parteikonvent muss im September entscheiden, ob die roten Linien eingehalten worden sind oder eben nicht. Allerdings gibt es noch zahlreiche offene Fragen. Die umstrittenen Schiedsgerichte sollen im Vertrag durch ordentliche Handelsgerichte ersetzt werden – ein wichtiger Verhandlungserfolg, der aber nichts bringt, wenn die Rechtsgrundlagen für diese Gerichte schlecht sind. Die vielen unbestimmten Rechtsbegriffe im Vertrag müssen dringend weiter präzisiert werden. Wir setzen deshalb auf weitere Verhandlungen. Glücklicherweise ist die neue kanadische Regierung fortschrittlicher als die alte. Das gibt uns die Gelegenheit, an bestimmten Stellen noch einmal neu anzusetzen.

Nicht ohne den Bundestag

CETA darf aber auf keinen Fall ohne die Beteiligung der nationalen Parlamente in Kraft treten. Der Deutsche Bundestag muss sich intensiv mit diesem Abkommen befassen. Wie bei der ersten Föderalismusreform muss es eine Anhörung im Plenum des Parlaments und zusätzlich Anhörungen in allen betroffenen Fachausschüssen geben, wenn der übersetzte Vertragstext vorliegt. Wir erleben derzeit eine der tiefsten Sinnkrisen der ‎EU. Vor diesem Hintergrund wäre es fatal, ein so weitreichendes und hoch umstrittenes Abkommen ohne die notwendige Akzeptanz in Kraft zu setzen. So kann kein Vertrauen in demokratische Prozesse entstehen. Die einzige Möglichkeit Vertrauen zurückzugewinnen, ist eine breite transparente Debatte, die wir immer wieder einfordern.