„Politik heißt etwas wollen“ – Zeit für neuen Gestaltungswillen der SPD

Gemeinsam erklären Matthias Miersch, Ralf Stegner und Kevin Kühnert:

„Als knapp zwei Drittel der SPD-Mitglieder im März des vergangenen Jahres ihre Zustimmung zu einem erneuten Eintreten in eine Große Koalition mit CDU und CSU gaben, taten sie das unter dem Eindruck des Jamaika-Debakels und auf der Grundlage eines Koalitionsvertrages, mit dem sie dank einiger Verhandlungserfolge konkrete Hoffnungen verbanden. Sie taten es aber auch unter dem Versprechen der Parteispitze, dass diese neue Groko eine andere SPD erleben wird: eine selbstbewusste, entschlossen vorangehende SPD. Eine linke Volkspartei SPD, die über das Regierungshandeln hinaus mit klaren, zugespitzten Forderungen ihr Profil als Gemeinwohlpartei schärft. Und eine SPD, die, wo nötig, auch den offenen Konflikt mit einer nach rechts abdriftenden Union nicht scheut.

Heute, ein reichliches Jahr später, stehen wir vor enttäuschenden Ergebnissen bei der Europawahl und der Bremer Bürgerschaftswahl – trotz populärer Kandidatinnen und Kandidaten, trotz erster Schritte in der Sozialpolitik hin zu überzeugender wie unterscheidbarer Programmatik, trotz konkreter Erfolge in der Regierung. Nach Monaten mit zahllosen Gesprächen unter Parteimitgliedern wie Sympathisanten kann es für uns keine Fehleranalyse geben, die ohne folgenden, grundlegenden Befund auskommt:

Wir sind gemeinsam der Erwartungshaltung nicht gerecht geworden.

Ob an der Nordsee oder im Allgäu, ob in Aachen oder Neuruppin: Überall vermissen die Menschen bei der SPD inhaltliche Klarheit und deutliche Kommunikation, sie vermissen die letzte Konsequenz unserer Forderungen und damit die Bereitschaft, bei den drängendsten Themen selbstbewusst voranzugehen. Mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, aber auch mit Blick auf den Stolz unserer Partei kann es daher für die gesamte Partei nur eine Devise geben: Wort halten. Dafür braucht es einerseits Standhaftigkeit, wenn der Wind mal straff von vorne weht, und andererseits Mut zur entschiedenen Kurskorrektur, wo diese geboten ist.

Der zentrale Satz unserer ein Jahr alten Analyse „Aus Fehlern lernen“, in der das Wahljahr 2017 bilanziert wurde, lautet: „Keine Haltung erkennbar werden zu lassen, um niemanden zu verschrecken, führt dazu, am Ende alle zu verlieren.“ Dieser Satz hat nichts von seiner Bedeutung verloren.

Für die Arbeit in der Großen Koalition heißt das: Eine SPD ohne Angst – weder als unterwürfiger Juniorpartner noch als Opposition in der Regierung, sondern als linkes Gegengewicht mit der Perspektive fortschrittlicher Bündnisse nach dem Ende dieser Koalition. Wir können bei zentralen Themen keine Blockaden durch CDU und CSU mehr dulden. Die Groko muss liefern, wenn diese Koalition Bestand haben soll.

Deshalb muss noch vor Ablauf des Jahres ein konkretes und somit belastbares Klimaschutzgesetz verabschiedet werden, das es uns als Bundesrepublik Deutschland ermöglicht, unsere internationalen Zusagen einzuhalten und unserer Verantwortung diesem Planeten und seinen Menschen gegenüber gerecht zu werden. Auch das seit Jahren von der Union ausgebremste neue Berufsbildungsgesetz muss vor Jahresfrist über die Ziellinie gebracht werden; es soll Azubis bei Bezahlung und Schutzrechten spürbar stärken. Zudem gilt: Unsere Grundrente und das Einwanderungsgesetz müssen ohne Wenn und Aber durchgesetzt werden. Das sind selbstgesteckte Ziele, an denen wir die Zusammenarbeit konkret messen werden.

Bei der Besteuerung multinationaler Konzerne und der internationalen Mindeststeuer braucht es schnellere Fortschritte. Hier dürfen wir als SPD nicht abwarten, sondern müssen gemeinsam mit anderen europäischen Staaten wie Frankreich, Spanien und Portugal vorangehen. Der europapolitische Teil des Koalitionsvertrages muss endlich umgesetzt werden! Die Sozialdemokratie steht für Investitionen in die Zukunft statt für Aufrüstung. Auch dazu sollten wir uns noch klarer bekennen. Der Grundsatz, keine Waffenlieferungen in Krisengebiete und Diktaturen zu dulden, muss in der Regierungspraxis konsequent umgesetzt werden. Wir wollen nicht alle paar Monate über dieses Gebot der Vernunft neu verhandeln müssen.

Doch auch jenseits der Regierungsarbeit müssen wir die Debatte um die großen politischen Fragen unserer Zeit anführen. Der Kapitalismus ist zu tief in die sensibelsten Bereiche unseres Zusammenlebens vorgedrungen und muss zurückgedrängt werden. Uns geht es anders als Union und FDP um Menschen, nicht um Märkte. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche – von der Kita bis zur Pflege – ist das Gegenteil von Fortschritt. Bezahlbare Mieten, auskömmliche Renten, ein Gesundheitssystem für alle, der Schutz des Weltklimas, ein Sozialstaat auf der Höhe der Zeit – all das kann nur durch einen handlungsfähigen Staat gegen Marktversagen und den tiefsitzenden neoliberalen Zeitgeist durchgesetzt werden. Wir stehen als Gemeinwohlpartei gegen diesen organisierten Egoismus und das müssen wir glasklar, ohne Technokraten-Sprech und doppelten Boden vermitteln!

Unser umfassendes, weit über die Grundrente hinausgehendes Sozialstaatskonzept mit Kindergrundsicherung, Bürgergeld, höherem Mindestlohn, Bürgerversicherung, Gebührenfreiheit aller Bildungsangebote sowie Recht auf Qualifizierung kann und wird von einer SPD-geführten Regierung umgesetzt werden – oder gar nicht. Das gleiche gilt für den sozialökologischen Umbau unserer Industriegesellschaft, der Arbeit und Umwelt vereint, weil er die Verantwortung dafür nicht dem Einzelnen aufbürdet.

Die meisten Punkte werden mit der Union nicht umsetzbar sein. Wer lieber DAX-Vorstände um durchschnittlich je 140.000 Euro steuerlich entlasten will als Menschen nach 35 Jahren harter Arbeit eine anständige Rente zu bezahlen, mit dem kann die politische Zusammenarbeit nur vorübergehend sein. Die Große Koalition hat ein Enddatum: Allerspätestens September 2021, und notfalls eben auch früher. Wir haben mit der Union keinen Abo-Vertrag geschlossen.

Zudem ist auf die Konservativen kein Verlass, wenn es um den Kampf gegen die Feinde der Demokratie geht. So moralisch verkommen und korrupt die Rechtspopulisten auch sind: Dass diese gefährlich werden können liegt auch daran, dass Konservative mit ihnen kooperieren. Wir Sozialdemokraten sind das verlässliche Bollwerk gegen Rechts.

Gleichzeitig deuten die ersten Wahlanalysen darauf hin, dass wir dabei sind, die junge Generation zu verlieren. Die Debatten um das Video des Youtubers Rezo, das über elf Millionen Menschen angeschaut haben, zeigt exemplarisch die politische und kulturelle Herausforderung bei Fragen der Klimapolitik und Netzpolitik. Hier wird zwar die Union als Hauptgegner wahrgenommen. Für die SPD gilt aber, dass wir nicht ernst genommen und schon gar nicht als Teil der Lösung betrachtet werden. Hier helfen keine PR-Aktionen, sondern nur, dass wir uns ernsthaft auf die Fragen des Klimaschutzes und der Netzpolitik einlassen und auch deren kulturelle Dimension begreifen. Dazu müssen wir auch unsere Kommunikation auf die Höhe der Zeit bringen.

Wir bekennen uns aus all diesen Gründen ohne Wenn und Aber zum Ziel, in Zukunft ein progressives Bündnis links der Union anzuführen und dies in Wahlkämpfen auch zu vertreten. Wollen wir uns denn immer noch von faden Kampagnen gegen Rot-Grün-Rot erschrecken lassen? Nein! Auch dieser kapitalgedeckten politischen Lebensversicherung der Union fehlt die Substanz. Jetzt müssen alle fortschrittlichen Parteien – Grüne, Linkspartei und wir – ihre Hausaufgaben machen. Während die Grünen klären müssen, ob sie wirklich Jamaika-Koalitionen einem sozialen Bündnis vorziehen, muss die Linkspartei entscheiden, ob sie in der Breite wirklich regieren und auch gemeinsame europäische Positionen mittragen will.

Für die SPD gilt, dass wir nur dann stärkste Kraft in einem solchen progressiven Bündnis werden und eine Mehrheit dafür erkämpfen können, wenn wir Klarheit über unseren politischen Kurs mit deutlicher Kommunikation und neuer Organisationskraft verbinden – auch und gerade in Regionen, in denen wir besonders schwach sind. Dazu gehört ein neues, sozialdemokratisches Selbstbewusstsein und die Überwindung vornehmlich innerparteilicher Auseinandersetzungen genauso wie ein neuer Geist der Solidarität. Wir respektieren die Leistungen früherer Verantwortlicher und erwarten umgekehrt von diesen politische Unterstützung für jene, die heute Verantwortung tragen. Diskussionen um Köpfe öden auch uns an. Wir haben vielmehr Lust auf zugespitzte Debatten über unseren künftigen Kurs. Diese Debatte gehört auf die öffentliche Bühne und nicht in Hintergrundgespräche.

Diese notwendigen Klärungen kann keine Fraktion stellvertretend für die gesamte Sozialdemokratie vornehmen. Es ist unser Ziel, dass der Bundesparteitag im Dezember alle notwendigen inhaltlichen, organisatorischen und personellen Weichenstellungen vornimmt, um Klarheit über den künftigen Kurs herzustellen und ein Vorstandsteam zu wählen, das mit neuem Vertrauen diesen Kurs umsetzt. Olof Palme hat gesagt: „Politik heißt, etwas wollen!“ Wir wissen, was wir wollen. Es ist Zeit für neuen sozialdemokratischen Gestaltungswillen mit Leidenschaft und Entschlossenheit.“